Freitag, 7. November 2014

Serie: Ernährung in Kinderbüchern - Folge 1: Die Raupe Nimmersatt

Zugegeben, die Idee ist nicht von mir. Sondern von meiner Mutter. (Merci!) Vermutlich meine treueste Leserin. Und Buchhändlerin. Kein Wunder also.

Die Sache ist so einfach, wie naheliegend: Was lernen unsere Kinder eigentlich über Ernährung aus Kinderbüchern?

Bücher waren sowohl beim Koch als auch bei mir ein großer Teil unserer Kindheit. Und sind es deshalb auch für den kleinen Mann. Aber was erzählen die denn eigentlich über Essen? Decken sich unsere Ansichten als Eltern mit denen der Kinderbuchautoren?

Wir beginnen mit einem Klassiker: "Die kleine Raupe Nimmersatt" von Eric Carle. 
Erst jetzt stelle ich fest, dass es sich um einen US-amerikanischen Autor und Illustrator handelt. Der Originaltitel: "The Very Hungry Caterpillar." Die Übersetzung* findet die Sprachwissenschaftlerin in mir schonmal okay. Die Illustrationen und die Gestaltung des Buches - unterschiedliche Seitenformate und Löcher, durch die sich die Raupe frisst, waren damals revolutionär - lasse ich bei meinen Überlegungen außer Acht. Es soll hier vor allem um den (textlich-bildlichen) Inhalt und die Botschaft des Buches gehen - wenn es denn eine gibt.

Ein kurzer Abriss:
Aus einem Ei schlüpft "eine kleine hungrige Raupe." Auf der Suche nach Futter frisst sie sich zunächst durch allerlei Obst, in immer größeren Mengen. "Am Sonnabend" kommen dann allerdings andere Lebensmittel dran, die sie alle an einem einzigen Tag verputzt: Kuchen, Eis, Würstchen... Das Resultat: "An diesem Abend hatte sie Bauchschmerzen!" Am Tag darauf frisst sich die Raupe "durch ein grünes Blatt," worauf hin es ihr viel besser geht. Nun ist sie nicht mehr hungrig. Sie ist groß und dick geworden (das Bild finde ich am Besten, herrlich!), verpuppt sich in einem Kokon, aus dem sie sich schließlich herausknabbert, als "ein wunderschöner Schmetterling!"

Was will uns bzw. unseren Kleinkindern Carle damit eigentlich erzählen? Es handelt sich genau betrachtet um einen sehr schlichten, sachlichen, fast ohne Adjektive beschreibenden und wenig anschaulichen Text. Carles auktiorialer Erzähler beschränkt sich auf das Wesentliche, er schwingt nicht die moralische Keule, er kommentiert nicht, er spricht den Leser nicht direkt an.

Die Raupe kriecht durch die Nahrung, sie erlebt verschiedene Texturen, Farben, Gerüche, Geschmack... eigentlich ein sehr sinnliches Erlebnis! Doch Carle lässt diese Sinnlichkeit im Text gänzlich außen vor und sagt uns nur, dass sie noch immer nicht satt ist. Nicht gerade romantisch.

Doch wo geht der Text über die naturwissenschaftliche Realität hinaus? Ab wann wird es fantastisch?
Ja, aus einer Raupe wird ein Schmetterling. Und dazu muss sie viel fressen. "Die Raupe ist das eigentliche Fressstadium des Schmetterlings. Bei manchen ist es sogar das einzige, in dem sie überhaupt Nahrung zu sich nehmen." Aha, interessant. In der Natur frisst sie allerdings nur frische, grüne Blätter (und ist auch da meist sehr wählerisch und frisst nur bestimmte Arten.) 

Warum ernährt Carle seine Raupe also anders? Macht sogar aus einem Vegetarier einen Fleischfresser?
Wieso beginnt er mit naturbelassenen Lebensmitteln? Warum frisst sie nur Obst und kein Gemüse? Und warum hat der Autor genau diese verarbeiteten Lebensmittel ausgewählt?

Mein Eindruck: Das ist so ziemlich alles, was das Kinderherz bzw. der -magen eben so begehrt. Diese 2 Seiten spiegeln die westliche Ernährung des 20. Jahrhunderts wider. Die Identifikationsfigur (in diesem Fall identisch mit der Hauptfigur) spielt in jedem Kinderbuch eine große Rolle. Sie macht es den Kindern leichter, die Geschichte mitzuerleben. Klar also, dass Carle für seine Raupe die Lebensmittel wählt, die Kinder in seinem Kulturkreis kennen und mögen. (Nur die Essiggurke verstehe ich nicht ganz... stehen da amerikanische Kinder drauf?) 

Warum aber dieser Ablauf? Vielleicht so: Wie die kleine Raupe Nimmersatt machen auch wir Menschen Phasen beim Essen durch. 
Phase 1: Obst und Gemüse - in unserem Kulturkreis meist in Breiform. Die Eltern bestimmen den Speiseplan, dennoch haben Kinder hier schon die ersten Geschmacks-Erlebnisse und entwickeln Vorlieben, und die erste heißt meistens: Süßes! (Muttermilch...) Deshalb vielleicht auch lieber Obst?
Phase 2: So lecker! -  beim Essen geht es mehr um Genuss, um Lust, als um Ausgewogenheit. Zu stark sind doch die Verlockungen! Und die langfristigen Folgen für die Gesundheit sind für ein Kleinkind schließlich noch völlig abstrakt.
Phase 3: Vernunft - irgendwann, meist im mehr oder weniger frühen Erwachsenenalter, kommt (hoffentlich) Interesse am Kochen und der junge Erwachsene besinnt sich wieder stärker auf das, was ihm gut tut. Viele entwickeln zum Beispiel im Teeniealter Interesse am (Süßigkeiten-) Fasten.

Insofern könnte das auch ein Appell an Eltern sein: Macht Euch nicht zu viel Sorgen - die Kinder machen das schon richtig! Lasst Eure Kleinen ihren Nahrungsweg bloß selber suchen. Erst im offenen Zugang zu und im Wechsel von Angebot, Menge und Zubereitungsarten kann sich ein individueller Geschmack, Lust am Essen entwickeln. Die Kleinen brauchen viel(fältige) Nahrung, um groß und stark zu werden. Und am Besten ihr macht daraus ein sinnliches, genussvolles Erlebnis! Am Schluss schlüpft jede fette Raupe, die nur ans Fressen dachte, und wird zum Schmetterling, der fliegen kann.

Doch als Mahnung, dass uns übermäßiges Essen nicht gut tut, kann man die Geschichte schon auch lesen. Schließlich findet sich hier die einzige klare Wertung des Buches in Form eines Satzzeichens: "An diesem Abend hatte sie Bauchschmerzen!" Ausrufezeichen. Nicht Punkt. Und dazu das schmerzverzerrte Gesicht... Sie hat es übertrieben, die liebe Raupe. 
Für uns Menschen: Vorsicht vor übermäßigem und unkontrolliertem “Zufüttern”! Gebt dem Kind eine Chance, zu äußern, dass es Hunger hat und zu merken, wann es satt ist. 
Insofern ist die Übersetzung "nimmersatt" für "very hungry" doch nicht ganz so passend: Sie ist schließlich doch irgendwann satt. Aber in den heutigen Zeiten ist der deutsche Titel doch auch ein passendes Symbol für unsere nimmersatte Konsumgesellschaft, und für all die Broker und Banker, die den Hals nicht voll genug bekamen. Leute, es gibt ein ZU VIEL!
Andererseits: Irgendwie sind wir doch alle nimmersatt. Zumindest auf Ernährung bezogen. Die ist nun mal ein ständiger Kreislauf: wir müssen alle immer wieder essen, um zu leben. Und nimmersatt nach dem sinnlichen Erlebnis Essen zu sein, ist sicher nicht das Schlimmste.

Manch einer liest es vielleicht auch als Mahnung für die Kinder, dass stark verarbeitete Lebensmittel ihnen nicht gut tun. Dass der Raupe das grüne Blatt, ihre natürliche Ernährung, eben gut bekommt, und die sehr fettigen, süßen und salzigen (Industrie-) Lebensmittel eben nicht. Und ein Vegetarier könnte natürlich argumentieren, dass Fleisch der Raupe nun mal ganz sicher nicht gut tun kann.

Was lernen aber nun die Kinder aus einer solchen Geschichte über Ernährung? Was ist das Wirkungspotenzial?

Was mir hier, am Anfang der Serie, schon deutlich bewusst wird: Gerade dieses Buch, in dem im Text keine eindeutigen Wertungen und moralischen Botschaften liegen, lässt sich auf viele verschiedene Arten vor-lesen. Der Vorleser muss sich tatsächlich selbst entscheiden, welche Geschichte er daraus macht: Biologie, sinnliches Erlebnis, Warnung, Ermunterung, oder noch was ganz anderes... All das steckt drin. 
Diese komplexe Mischung eben, die zum Thema Essen von Klein an dazugehört! Vermutlich ein Grund, warum dieses Buch auch noch in den heutigen Kinderzimmern lebt. 


* Die deutsche Textfassung ist von Viktor Christen.
Quellen: Eric Carle "Die kleine Raupe Nimmersatt" - 36. Auflage 2012, Wikipedia-Artikel, Artikel zum 40. Geburtstag des Buches bei sueddeutsche.de und welt.de, Wikipedia-Artikel über Raupen, Artikel Eine Raupe versorgen

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